Das Wort zum Sonntag

Keine Angst, das wird keine Predigt, noch nicht einmal besonders religiös. Es geht um Literatur. Und natürlich um Olivenöl. Nikos Kasantzakis, auf Kreta in Heraklion 1883 geboren und 1957 in Freiburg im Breisgau gestorben. Er studierte Jura in Athen und Paris. Nach einem kurzen Aufenthalt in Griechenland lebte er zwischen 1920 und 1933 in Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien, der Sowjetunion, Palästina, Zypern, Spanien und Ägypten. Die Jahre zwischen 1933 und 1947 verbrachte er in Griechenland, ab 1947 ließ er sich endgültig in Frankreich nieder. Kasantzakis wurde weltberühmt durch seinen Roman Alexis Sorbas (1946). In Askese. Salvatores Dei brachte er seine Philosophie im Geiste Bergsons, Nietzsches und Schopenhauers zum Ausdruck. Als sein Hauptwerk betrachtete er seine Odyssee, ein aus 33333 Versen bestehendes Epos. Neben seiner Lyrik, Prosa und Reiseliteratur übersetzte Kasantzakis u. a. Homer, Dante, Schopenhauer, Nietzsche, Bergson und Darwin ins Griechische.
Nachfolgender Ausschnitt entstammt der Erzählung „Rechenschaft vor El Greco“:

Der Tod des Großvaters

Der Großvater öffnete die Augen, winkte; alle traten dichter an ihn heran. In der ersten Reihe seine Söhne, dahinter die Enkel, zuerst die Männer und dahinter die Töchter und die Schwägerinnen. Der Alte streckte seine Hand aus. Eine alte Frau schob ihm ein Kissen unter den Nacken. Da vernahm man die Stimme des Großvaters:
»Lebt wohl, ihr Kinder«, sagte er. »Ich habe mein Brot gegessen, ich gehe nun. Ich habe den Hof mit Kindern und Enkeln gefüllt, ich habe meine Tonfässer mit Öl und Honig gefüllt, ich habe meine Weinfässer mit Wein gefüllt, ich kann nicht klagen. Lebt wohl!«
Er winkte mit den Händen, er nahm Abschied. Er wandte sich, sah uns alle an, einen nach dem andern. Ich dachte nicht mehr an den Segen, ich stand versteckt hinter drei meiner Vettern, er sah mich nicht. Niemand sprach; da tat der Alte wieder den Mund auf:
»Spitzt eure Ohren, ihr Kinder, hört meine letzten Gebote: Gebt acht auf die Tiere, auf die Rinder, auf die Schafe, auf die Esel; glaubt mir, sie haben auch eine Seele, sind auch Men- schen, nur daß sie ein Fell tragen und nicht sprechen können; frühere Menschen sind es, gebt ihnen zu essen; gebt acht auf die Olivenbäume und die Weinfelder, ihr müßt sie düngen, sie begießen, sie beschneiden, wenn ihr wollt, daß sie euch Früchte bringen; auch sie waren früher Menschen, aber viel, viel früher, und haben kein Erinnerungsvermögen mehr; doch der Mensch hat es, und daher ist er Mensch. Hört ihr? Oder spreche ich zu tauben Ohren?«
»Wir hören, Alter, wir hören. ..«, antworteten einige.